Der Landkreis Kirov liegt in Russlands Nordosten, hat eine reiche Dialektlandschaft, steht aber auch in Kontakt mit nichtrussischen Nachbarvölkern. Auch die Stadtsprache von Kirov weicht vom Moskauer Standard ab, wie der Pionier der russischen Soziolinguistik Karinskij 1931 festgestellt hat.
Diese Karte des Kirover Gebietes ist eine Kopie aus der „Geografischen Enzyklopädie“, Moskau 1998, Seite 262. Die Nachbarn heißen Komi, Udmurten, Mari… Ganz links oben erkennt man den Fluss Jug, der ins alte Fürstentum Ustjug Velikij führt. Aber auch Jug hat finnougrische Wurzeln, im Finnischen heisst joki der Fluss (Vasmer 1953-1958).
Nikolaj Michajlovič Karinskij (1873 – 1935) schreibt 1931, dass man bei manchen gebildeten Kirover Stadtbewohnern eine Moskauer Aussprache beobachtet, bei manchen aber nicht nur das Okanje (als nordrussisches Dialektmerkmal) sondern eine „charakteristische Melodie der Vjatka-Aussprache“ hören kann. Weitere Informationen im Buch "Merkmale der Russischen Sprache".
Sergei Mironowitsch Kirow ist 1886 in Uržum geboren (auf der Vjatka-Karte im Süden zu erkennen). Er ist einer der zentralen Politiker der Stalinära. Nach seinem gewaltsamen Tode 1934 wurde nicht nur die Stadt nach ihm benannt, sondern auch das Kirov-Theater in Leningrad, das 1991 (ebenso wie die Stadt) umbenannt wurde in Mariinski-Theater.
Wenn ich in Kirov ankomme, werde ich am Bahnhof abgeholt und die Dialektexpedition kann losgehen. Alles ist gut vorbereitet von den besten Kennern der Dialekte und des ganzen Landes, Frau Vera Vasil‘evna Podrušnjak (Mitarbeiterin der Universität) und Frau Elena Nikolaevna Moškina (jetzt Direktorin des Orthodoxen Gymnasiums). In den Jahren 2008 und 2009 übte ich mit einer Studentengruppe die Feldarbeit des Dialektologen und die Bearbeitung der Aufnahmen mit dem Computer. Wir lachten sehr bei der Beobachtung, dass auch in ihrer Gruppe die „besondere Melodie“ auftaucht, die Karinskij hervorgehoben hat (siehe oben!).
Vera Vasil‘evna Podrušnjak mit meinem kleinen, und Elena Nikolaevna Moškina mit meinem großen Koffer, 2005
Studentengruppe in einem Hörsaal der Universität, 2008
Mit dem Nachtzug fuhren wir von Kirov nach Luza, wo uns der Bürgermeister sein Auto mit Chauffeur zur Verfügung stellte. Im kleinen Dörfchen Lopotovo erzählte uns Olimpiada Timofeevna ihre Erinnerungen, unter anderem ihre spannende Begegnung mit einem Bären. Dann ist noch eine besonders interessante Aufnahme gelungen: Großmutter Olimpiada, Mutter und Tochter unterhielten sich zu dritt ganz ungezwungen, und ich hatte das Tonbandgerät noch nicht ausgeschaltet.
Das war 1993, als wir uns mit den Kirovern zum ersten Mal getroffen haben, zum letzten Mal im August 2021 – bei einer Videokonferenz. Dabei haben wir uns geschworen: „Das nächste Mal fahren wir- nach 30 Jahren - nochmal nach Lal’sk und nach Lopotovo.“
Bahnhofsgebäude von Luza, 1993
Olimpiada Timofeevna ist 1913 geboren, ihre Schwiegertochter Glafira Fedoseevna gehört zur nächsten Generation, und deren Tochter Ljudmila Nikolaevna zur übernächsten.
»И все-таки вывела, все вывела. LK: Да ...«
»Und doch habe ich sie durchgebracht. Alle habe ich durchgebracht. LK: Ja...«
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KIR1-01
Das war im Jahr 1993, von da an war Kirov so etwas wie unser Hauptquartier: Wir haben nicht nur Dialekte digital aufgezeichnet (die Orte sind auf der Karte Nr. 1 zu beobachten). Wir haben Interviews und frog-story Erzählungen von Kindern aufgenommen (KIR4, KIR5, KIR 13, KIR16), von Studenten (KIR10, KIR11, KIR12, KIR15), und vor allem viele Gespräche mit Russlanddeutschen.
Meine Lieblingspartnerin aus dieser Gruppe ist Frau Elena Mjasnikova alias Helene Wagner aus Franzfeld, einem Dorf deutschstämmiger Siedler bei Odessa, mit ihr verband mich bis zu ihrem Tod eine langjährige Freundschaft. Bei den innigen Gesprächen mit ihr ist mir klar geworden, dass wir ja nicht nur Dialektmerkmale sammeln. Ein ganzes Leben wird uns in zwei Stunden (so lang dauern gewöhnlich unsere Interviews) sorgfältig und kenntnisreich verpackt und als Geschenk überreicht, für uns und für jeden, der bereit ist, diesem Schatz sein Ohr zu öffnen.
Frau Wagner erzählt ihr abenteuerliches Leben, die Flucht ihrer Familie zu Fuss nach Deutschland, die Einbürgerung, und schließlich den Abtransport in ein Straflager in Muchino bei Zuevka (siehe Karte), wo sie und ihr Bruder Josef bis zur Rehabilitierung 1955 schuften mussten.