LEK1-Sprache    
     

Wir haben Frau Tatjána Sergéevna (geb. 1907) auf der Dorfstrasse aufgenommen, man hört verschiedene ländliche Geräusche, Hühner und Gänse, und das Krachen zwischendurch stammt vom Wind, der über das ungeschützte Mikrophon streicht.

Deutlich tritt die schon von Šáchmatov (1914) beobachtete lautliche Besonderheit hervor: Das offene /o/ und das /o/ mit verengter Artikulation. Man hört bei letzterem die Tendenz zur  Diphthongierung, der Laut bewegt sich am Ende der Artikulation auf ein /u/ zu, vgl. das Wort Kolchose /kolchóus/  im Beispielsatz LEK1-01-01-q (siehe unten Zeile 3).

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Tatjana Sergéevna, eine Aufnahme von Cecilia Odé.

     

Tatjana Sergeevna (TS), Leonid Kasatkin (LK) und Christian Sappok (CS) am Anfang des Gesprächs  (siehe Foto oben unter LEK1-Motiv):

 

l

LEK1-01-01-l erster Abschnitt

 

b TS: Была председателем, работала, да.  CS: Да? Ага. LK: Председателем колхоза? TS: А? LK: Председателем колхоза? TS: Да, да.

TS: Ich war Vorsitzende, hab gearbeitet,ja. CS: Wirklich? Aha! LK: Vorsitzende der Kolchose? TS: Was? LK: Vorsitzende der Kolchos?TS: Ja, ja.

 

q TS: Началсь колхоз, семена собирали, o! Мать родная! Хто даёт, хто не отдаёт лошадям сено.

TS: Es begann die Zeit der Kolchose, man sammelte Saatgut ein. Oh! Liebste Mutter! Der eine gibt, der andere nicht,für die Pferde Heu.

 

r Сена надо-сь ведь, кормить-то надо.

Heu ist doch notwendig, füttern muss man doch.

 

s Ну кое-как собрались, убралися.

Na, irgendwie wurde gesammelt, eingesammelt.

 

t семенов ... этот председатель был, все пропил,

das Saatgut ... Da war ein Vorsitzender, hat alles versoffen,

 

 u

нету ... А я сено худом корытом. Вот и как хош так ...

es gibt nichts mehr. Und ich sammle Heu mit armseligem Trog. So war das, mach was du willst

 

v

LEK1-01-01-v zweiter Abschnitt

 

x И все-таки вывела, все вывела. LK: Да ... Und doch habe ich sie durchgebracht. Alle habe ich durchgebracht. LK: Ja.
           
y Лошади были хорошие. Коровы были хорошие. Die Pferde waren gut. Die Kühe waren gut.
           
z Молоко возили в Пышлицы на молокозавод сами, своими лошадями. (Вздох) Да...

Die Milch brachte man nach Pyshlicy zum Milchbetrieb,selbst, mit den eigenen Pferden.(Seufzt) Jaaa...

 

Was erfahren wir in diesem Text? Unsere Begegnung mit Tatjána Sergéevna auf der Dorfstrasse von Šéino (ein paar Kilometer nördlich von Léka) war für beide Seiten ganz unerwartet. Aber unser Gespräch gestaltete sich von Anfang an offen und vertraulich, es gab keine bange Frage: Wie kommen wir an die Leute ran?. Schon nach kurzem Wortwechsel kam sie auf ihr wichtigstes Thema zu sprechen, den Beginn der Kollektivierung Anfang der 30er Jahre, als die Kolchosenwirtschaft zwangsweise eingeführt wurde. Tatjána Sergéevna ist sehr emotional, aber auf eine ganz unerwartete Weise: Ohne ein Wort der Klage über die erzwungene Enteignung, ohne ein Wort über die gewaltigen Veränderungen auf allen Gebieten des landwirtschaftlichen Lebens. Diese Kunst des Weglassens, der Beschränkung auf das Wesentliche kann man an diesen Textausschnitten gut verfolgen:

 

- Tatjána Sergéevna beschränkt den Blick auf das für den Betrieb Notwendigste, die Beschaffung von Futter für das Vieh und das Sammeln von Saatgut;

 

- Sie verläßt sich auf die Hilfe der Kühe und Pferde, und nicht auf die Unterstützung von oben;

 

- Sie ist stolz auf das Erreichte, das Abliefern der Milch im Molkereibetrieb, besonders stolz ist sie darauf, dass sie das mit den eigenen Pferden geschafft hat.

 

Sie spricht eigentlich gar nicht von der Kolchosenwirtschaft. Oder doch? Man müsste heraus bekommen, was sie genau meint, wenn sie sagt: "mit den eigenen Pferden" (Satz 15). Ihr individuelles Eigentum kann nicht gemeint sein. Hat sie sich schon mit der Kolchose identifiziert? Um diese Frage zu beantworten, muss man verfolgen, wie das Gespräch weitergeht.