LEK1-Sprache | ||
Wir haben Frau Tatjána Sergéevna (geb. 1907) auf der Dorfstrasse aufgenommen, man hört verschiedene ländliche Geräusche, Hühner und Gänse, und das Krachen zwischendurch stammt vom Wind, der über das ungeschützte Mikrophon streicht. Deutlich tritt die schon von Šáchmatov (1914) beobachtete lautliche Besonderheit hervor: Das offene /o/ und das /o/ mit verengter Artikulation. Man hört bei letzterem die Tendenz zur Diphthongierung, der Laut bewegt sich am Ende der Artikulation auf ein /u/ zu, vgl. das Wort Kolchose /kolchóus/ im Beispielsatz LEK1-01-01-q (siehe unten Zeile 3). |
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Tatjana Sergéevna, eine Aufnahme von Cecilia Odé. |
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Tatjana Sergeevna (TS), Leonid Kasatkin (LK) und Christian Sappok (CS) am Anfang des Gesprächs (siehe Foto oben unter LEK1-Motiv):
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l |
LEK1-01-01-l erster Abschnitt
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v |
LEK1-01-01-v zweiter Abschnitt
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Was erfahren wir in diesem Text? Unsere Begegnung mit Tatjána Sergéevna auf der Dorfstrasse von Šéino (ein paar Kilometer nördlich von Léka) war für beide Seiten ganz unerwartet. Aber unser Gespräch gestaltete sich von Anfang an offen und vertraulich, es gab keine bange Frage: Wie kommen wir an die Leute ran?. Schon nach kurzem Wortwechsel kam sie auf ihr wichtigstes Thema zu sprechen, den Beginn der Kollektivierung Anfang der 30er Jahre, als die Kolchosenwirtschaft zwangsweise eingeführt wurde. Tatjána Sergéevna ist sehr emotional, aber auf eine ganz unerwartete Weise: Ohne ein Wort der Klage über die erzwungene Enteignung, ohne ein Wort über die gewaltigen Veränderungen auf allen Gebieten des landwirtschaftlichen Lebens. Diese Kunst des Weglassens, der Beschränkung auf das Wesentliche kann man an diesen Textausschnitten gut verfolgen:
- Tatjána Sergéevna beschränkt den Blick auf das für den Betrieb Notwendigste, die Beschaffung von Futter für das Vieh und das Sammeln von Saatgut;
- Sie verläßt sich auf die Hilfe der Kühe und Pferde, und nicht auf die Unterstützung von oben;
- Sie ist stolz auf das Erreichte, das Abliefern der Milch im Molkereibetrieb, besonders stolz ist sie darauf, dass sie das mit den eigenen Pferden geschafft hat.
Sie spricht eigentlich gar nicht von der Kolchosenwirtschaft. Oder doch? Man müsste heraus bekommen, was sie genau meint, wenn sie sagt: "mit den eigenen Pferden" (Satz 15). Ihr individuelles Eigentum kann nicht gemeint sein. Hat sie sich schon mit der Kolchose identifiziert? Um diese Frage zu beantworten, muss man verfolgen, wie das Gespräch weitergeht. |